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Schulbesuche leisten einen wesentlichen Beitrag für einen Theorie-Praxis-Transfer im Lehramtsstudium, sind aber mit zahlreichen Hürden und Herausforderungen verbunden. Christoph Bülau, Mitarbeiter im Arbeitsbereich Schulentwicklungsforschung an der Universität Leipzig, hat deswegen virtuelle Schulrundgänge entwickelt, die diese Hürden nicht nur überwinden, sondern auch Einblicke in Räume geben, die sonst verschlossen bleiben.

Ziele und Chancen

Schulbesuche sind ein verbreitetes Instrument der Schulentwicklung. Eine kleine Gruppe von Besucher:innen wird an eine Besuchsschule eingeladen, lernt die Schule durch einen Rundgang kennen, hospitiert im Unterricht und bei den außerunterrichtlichen Aktivitäten, kommt in Kontakt mit den Akteur:innen vor Ort und kann sich mit ihnen austauschen. Für die Besucher:innen sind Schulbesuche ‚Lernreisen‘. „Sie dienen nicht der Multiplikation der Struktur einer Schule auf eine andere, sondern der Inspiration und Erweiterung des Vorstellungsvermögens auf dem Weg der Potentialentfaltung der eigenen Schule.“ (Rasfeld/Breidenbach, 2014, S. 120) Deswegen sind Schulbesuche in der ersten Phase der Lehramtsausbildung äußerst beliebt, weil sie einerseits einen Anlass für einen Dialog zwischen Forscher:innen und Praktiker:innen bieten und andererseits einen wesentlichen Beitrag für den Theorie-Praxis-Transfer leisten:

Lehramtsstudierende wünschen sich meist früh in ihrem Studium einen Blick in gelebte Schulpraxis (Ibrahim, 2020). Schulbesuche leisten hier einen wichtigen Beitrag, um die Uni-Inhalte an konkreten Schulen vertiefen zu können. Insofern sind sie in diesem Kontext auch immer ‚Entdeckungsreisen‘, denen ein gewisser Zauber innewohnt (Schratz, 2020). Sie haben darüber hinaus große Vorteile für Lehrende. Bei Schulbesuchen „geht es nicht nur darum, das Konzept und die Räume einer Schule kennenzulernen, sondern die Arbeit unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu betrachten.“ (DKJS, 2020, S. 14) Auf diese Weise lassen sich die universitär vermittelten, vorwiegend theoretischen Inhalte an der konkreten schulischen Praxis vor Ort veranschaulichen.

Herausforderungen

So sinnvoll und gewinnbringend für alle Beteiligten Schulbesuche auch sind, ihre Umsetzung ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden, die es zu bewältigen gilt:

Sie sind sehr aufwändig zu organisieren, nicht vollständig reproduzierbar und mit den Schulbesuchen kann man heterogenen Schulgruppen nicht unbedingt gerecht werden, weil man sich üblicherweise nur eine und nicht eine Schule jeder Schulform anschaut. Sie sind außerdem zeitlich eng getaktet, teilweise nicht barrierefrei, überwiegend linear und nicht interaktiv sowie zeit- und ortsabhängig. Zuletzt sind sie nur schwer mit Care- oder Lohnarbeitsverpflichtungen der Studierenden vereinbar, werden von den schulischen Akteur:innen sehr unterschiedlich vorbereitet und waren in Zeiten von Corona faktisch gar nicht umsetzbar (Bülau, 2022, S. 59f.).

Schulen als virtueller Lern- und Lebensraum

Da mit Ausbruch der Corona-Pandemie keine Schulbesuche für Lehramtsstudierende möglich waren, hat der Arbeitsbereich Schulentwicklungsforschung ab Mitte 2020 virtuelle 360-Grad-Schulrundgänge realisiert. Die virtuellen 360-Grad-Schulbesuche bieten die Möglichkeit, zeit- und ortsunabhängig Schulluft zu schnuppern, Schulen und ihre Schwerpunkte, ihre Ganztagsangebote und Kooperationspartner:innen kennenzulernen und das Schulleben in der Praxis zu erleben. Die Rundgänge geben dabei Einblick in Räume, die sonst verschlossen sind und informieren ausführlich über den schulischen Alltag.

Für das Projekt wurden vor allem Schulen ausgesucht, die in zentralen schulischen Qualitätsbereichen ein besonderes Profil erkennen lassen: Berufsorientierung, Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität, Preisträger:innenschulen, Fokus auf den MINT-Bereich und Sprachen, Schulen in herausfordernder Lage oder Schulen mit einem besonderen Ganztagskonzept.

Von den ausgewählten Schulen wurde zunächst ein Storyboard zur Begehung erstellt, welches die wichtigsten Elemente des Rundgangs enthält. Nach der Fotogenehmigung durch den Schulträger wurden bei einem Vor-Ort-Termin die Schulen begangen, mithilfe von 360-Grad-Kameras videografiert, der Aufbau des Rundgangs für die jeweilige Schule besprochen und zusätzliche Räume und Materialien gemeinsam erschlossen. Alle Artefakte wurden anschließend bearbeitet und zu einem virtuellen 360-Grad-Rundgang zusammengestellt. Die Nutzung aller Rundgänge ist dabei sowohl an Desktop-PCs als auch auf mobilen Endgeräten denkbar einfach. Alle Rundgänge werden mit einem Eröffnungsvideo eingeleitet, in dem die Besucher:innen von einer Person oder Personengruppe begrüßt werden. Mit dem Drücken des Start-Buttons beginnt jeder Schulbesuch im Eingangsbereich einer Schule. Von dort aus kann man sich selbstständig über sogenannte Portale frei von Bereich zu Bereich – und natürlich auch wieder zurück – bewegen. Die Besuche sind angereichert mit ‚Points Of Interest‘ (Texte, Fotos, Videos, Audios, externe Links), in denen alle Artefakte hinterlegt sind.

Bisher sind so für 7 Leipziger Schulen Rundgänge erstellt worden, die seit dem Wintersemester 2021 in Seminaren zu Ganztagsschule und Schulentwicklung eingesetzt und überaus positiv von den Studierenden evaluiert werden: „Der virtuelle Rundgang durch die Leibnizschule am Nordplatz hat mir sehr gut gefallen. Da ich selbst direkt daneben wohne und daher weiß, wie die Schule von außen aussieht, wollte ich wissen, wie die Schule nun von innen aussieht. Mit dem Rundgang bin ich gut zurechtgekommen, da alles eigentlich selbsterklärend war.“ Seit April 2023 werden alle Rundgänge erneut überarbeitet und weitere Rundgänge sind geplant.

 Zu den Rundgängen

 

Literaturverzeichnis

Beutel, S.-I.; Höhmann, K.; Pant, H. A.; Schratz, M. (2016): Handbuch Gute Schule. Sechs Qualitätsbereiche für eine zukunftsweisende Praxis. Friedrich Verlag GmbH.

Bülau, C. (2022): Von der heimischen Couch aus auf Reisen gehen – Potentiale von virtuellen 360-Grad-Schulbesuchen, In: Ganztagsschulverband e.V. (Hrsg.), Heft 2022, 62. Jg., S. 58-64.

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) (2020): Gute Schulen entstehen gemeinsam. Praxiswissen für Schulentwicklungsnetzwerke. URL: www.dkjs.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/programme/200505_LiGa_Netzwerk-Publikation.pdf (Zugriff am 08.05.2023).

Gieske-Roland, M.; Buhren, C. G.; Rolff, H.-G. (2014): Peer Review im Unterricht. Unterrichtsentwicklung durch gegenseitige Schulbesuche. Klappentext. Beltz.

Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster / New York / München / Berlin: Waxmann.

Ibrahim, H. (2020): Wieso im Studium der Blick in die Praxis so wichtig ist. URL: deutsches-schulportal.de/kolumnen/kreidestaub-lernreise-wieso-im-studium-der-blick-in-die-praxis-so-wichtig-ist/ (Zugriff am 08.05.2023).

LiGa-Akademie (2019): Schulbesuche als mögliches Instrument zur gemeinsamen Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung von Schulaufsicht und Schulleitungen. Empfehlungspapier erarbeitet im Rahmen der LiGa-Akademie für Schulaufsicht in Schleswig-Holstein. URL: lernen-im-ganztag.de/wp-content/uploads/2020/02/Akademie_LiGa-SH_Schulbesuche_1-2019.pdf (Zugriff am 08.05.2023).

Rasfeld, M; Breidenbach, S. (2014): Schulen im Aufbruch. Eine Anstiftung. Kösel-Verlag.

Schratz, M. (2020): Wenn ein Schulbesuch zur Schatzsuche wird. URL: deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/deutscher-schulpreis-wenn-ein-schulbesuch-zur-schatzsuche-wird/ (Zugriff am 08.05.2023).

 

Christoph Bülau

Christoph Bülau lehrt und forscht zu den Themen Ganztagsschule, Schulentwicklung und außerunterrichtliche Bildung am Arbeitsbereich Schulpädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Schulentwicklungsforschung; er ist Co-Vorsitzender des Landesverbands Sachsen und 2. Bundesvorsitzender des Ganztagsschulverbands e.V. Zudem arbeitet er ehrenamtlich im sächsischen Unterstützungssystem „Ganztag entwickeln.“